geldökonomie ohne wachstumszwang?

[12.7.2005]

Gibt es eine – bessere – Alternative zum Kapitalismus? Meine Ansicht: Es muss eine geben, denn wir – gerade in den “reichen” und “entwickelten” Ländern – werden früher oder später eine brauchen. Das folgt aus den Voraussetzungen des Systems, so wie ich sie verstehe. Und deshalb sollte auch darüber diskutiert werden. (Teil 1)

Es braucht keine ausdrücklich marxistische Analyse, um zu erkennen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem bereits mit einem – allerdings unbekannten – Ablaufdatum “geboren” wurde. Eine kapitalistische Wirtschaft kann, ungeachtet einer moralisch/ethisch motivierten Kritik an ihr (dazu weiter unten), nur solange funktionieren, solange sie “wächst” bzw. wachsen kann – das ist ihr einzig möglicher “Aggregatzustand” und ihre unabdingbare Existenzbedingung.

Der grundlegende Mechanismus des Systems heißt einfach: Geld muss mehr Geld werden – und zwar auf Ebene der Gesamtwirtschaft. Daher muss das System zusammenbrechen, wenn diese Voraussetzung nicht mehr gegeben ist; und daher konzentriert sich Wirtschaftspolitik vorrangig auf Wirtschaftswachstum und erst sekundär auf verteilungspolitische Fragen. Eine Umverteilung von Einkommen und Vermögen wird dabei auch nur insofern hilfreich sein, als sie zusätzliche Nachfrage erzeugt. (Siehe dazu u.a. geldschöpfung ermöglicht wachstum und die Folgetexte.)

Wenn ich vom Fehlen der Wachstumsvoraussetzungen rede, meine ich weder die dem Kapitalismus eigenen Konjunkturzyklen noch eine vorübergehende, wenn auch unter Umständen tiefe Depression wie etwa in den 1920er und 1930er Jahren, sondern eine Art historisches Plateau. Zugegeben: Selbst wenn es erreicht wird, könnte durch physische Zerstörung von Produktionsmitteln (insbesondere im Rahmen von Kriegen) das bereits verloren gegangene Wachstumspotenzial wieder hergestellt werden. Genau um die Vermeidung solcher Szenarien geht es mir ja, wenn ich hier über eine eventuell nicht so weit entfernte Wachstumsgrenze schreibe.

Permanente Rezession?

Bisher hat die kapitalistische Geldökonomie ihre Krisen überlebt, allerdings nur durch die Rekonstitution der Wachstumsbedingung wie etwa in den 1930er Jahren. Eine permanente Schrumpfung würde aber m.E. zu einer Verschärfung der ansonsten durch Wachstum übertünchten Verteilungskonflikte führen und ihre Grundlagen zerstören. Ein Teilsystem der Gesellschaft wird obsolet, wenn es eine gegebene Gemeinschaft nicht mehr “vergesellschaftet”, also miteinander verbindet, sondern auseinandertreibt und sprengt.

Es mag Leute geben, die die Existenz eines solchen historischen Plateaus in Abrede stellen und glauben (oder hoffen), dieses Wachstumspotenzial könnte dauerhaft oder zumindest noch ein paar Generationen gegeben sein. Ich habe ernsthafte Zweifel, und zwar nicht in erster Linie wegen des wachsenden Energiebedarfs und der Begrenztheit der derzeit wichtigsten Energieträger, nämlich der fossilen Brennstoffe (siehe dazu u.a. die peak oil diskussion).

Energie ist zumindest auf längere Sicht kein Problem, denn mit der Sonnenenergie stehen gewaltige ungenutzte Ressourcen zur Verfügung. Allerdings muss ich zugeben, dass es derzeit nicht unbedingt so aussieht, als ob der nötige Übergang zur Deckung des Energiebedarfs aus erneuerbaren Energieträgern ohne schwere wirtschaftliche, soziale und politische Krisen bewerkstelligt werden könnte. Zweifellos stellen Energieversorgungsprobleme eine unabhängige Wachstumsschranke dar, die einen “vorzeitigen” Zusammenbruch des Kapitalismus herbeiführen könnte.

Probleme: Demographie und Marktsättigung

Meine Zweifel am langfristigen Wachstumspotenzial beruhen vielmehr – ungeachtet des Energieproblems – sowohl auf bereits beobachtbaren praktischen Problemen als auch auf Plausibilitätsannahmen, wobei sich letztere natürlich als falsch herausstellen können.

Mit den “praktischen Problemen” meine ich die demographische Entwicklung insbesondere in den reichen Ländern, also das gleichzeitige Altern dieser Gesellschaften und der voraussichtliche Rückgang der Bevölkerungszahl; meine Plausibilitätsannahme bezieht sich auf das Phänomen der Marktsättigung. Damit meine ich die zunehmende Schwierigkeit, noch ungestillte Konsumbedürfnisse in einem Ausmaß zu entdecken bzw. zu erzeugen, das den durch Produktivitätssteigerung und technologische Entwicklung schrumpfenden Umsatz mit bereits existierenden Produkten und Dienstleistungen nicht nur wettmacht, sondern übersteigt.

Ich will keineswegs sagen, dass es nicht große ungestillte Bedürfnisse auch in reichen Ländern gibt; zumal ist ja derzeit ein per Arbeitslosigkeit etc. erzwungener “Konsumverzicht” gegeben. Über diesen “Nachholbedarf” hinaus sind aber meines Erachtens diese Bedürfnisse großteils auf einer Ebene angesiedelt, die sie einer profitablen Verwertung wenn vielleicht auch nicht grundsätzlich, so doch weitgehend entzieht.

Ich meine insbesondere den Bereich, der – etwas schwammig, ich weiß – als Bereich “persönlicher Dienstleistungen” definiert werden könnte. Solche Dienstleistungen erfordern im Vergleich zu industrieller Warenproduktion auch eine relativ geringe materielle/physische Infrastruktur; das erschwert den bisher praktizierten “Trick”, das für die (kaufkräftige) Nachfrage nach neuen Gütern und Dienstleistungen erforderliche Geld durch kreditfinanzierte Neuinvestitionen in kapitalintensive Anlagen etc. in Umlauf zu bringen.

Meine Annahme ist also, dass es in reichen Ländern an sich schon schwierig ist, eine zusätzliche Konsum- und Investitionsnachfrage zu erzeugen. Was die demographischen Probleme betrifft, so können diese
zwar durch Zuwanderung aus Ländern mit noch wachsender Bevölkerung gemildert werden, doch nur vorübergehend. Auch die heute armen Länder werden teilweise schon bald (China etwa) den selben demographischen Wandel erleben.

Nun fällt aber ein Großteil der (Kaufkraft vorausgesetzt) Gesamtnachfrage im Leben nicht im Alter, sondern in den Lebensperioden davor an (Schulausbildung, Hausstandsgründung, Wohnungserwerb etc.). Hoffnungen, dass ältere oder bereits im Ruhestand befindliche Menschen einem verzögerten Konsumrausch erliegen könnten, da sie nicht mehr sparen müssten (eine Annahme!), haben sich zumindest in Japan nicht unbedingt bewahrheitet. Es ist also eher davon auszugehen, dass die voraussichtliche demographische Entwicklung eine weitere Reduzierung des Wachstumspotenzials bedeuten wird.

Wie problematisch die Situation werden kann, lässt sich gerade an der Entwicklung der japanischen Wirtschaft zeigen. Diese wurde ja bekanntlich Ende der 1980er Jahre von einem “wirtschaftlichen Tsunami” getroffen, als eine kreditfinanzierte “Blase” auf den Aktien- und Immobilienmärkten platzte, und konnte seither nicht mehr auf einen “nachhaltigen” Wachstumskurs zurückgeführt werden.

Dabei hat es nicht einmal geholfen, dass die japanischen Regierungen (in Euroland derzeit unvorstellbare) Budgetdefizite in Kauf genommen haben, die schon anhand einer einzigen Zahlenrelation sofort als unhaltbare Notlösung zu erkennen sind: Der Staat macht jedes Jahr Schulden im Ausmaß von rund 7% des Bruttoinlandsprodukts (1999 – 2004: -7,2/-7,5/-6,1/-7,9/-7,8/-7,1), und trotzdem waren die Wachstumsraten lange negativ bzw. auch zuletzt mager (2003: 1,4 bzw. 2004: 2,6) (Quelle: World Economic Outlook des IWF von April 2005). Die unzähligen weißen Elefanten, die in den vergangenen Jahren in Form unnötiger Verkehrsinfrastruktur in die japanische Landschaft gepflanzt wurden, sind Legion.

Als Illustration der Problematik, rasches Wachstum zu erzielen, sollte dies ausreichen. Praktisch ist die Wachstumsbedingung aber meist sogar noch restriktiver: Da ein reales Wachstum der Wirtschaft in der Regel nur per Kreditschöpfung zustande kommen kann (Ausnahme siehe Anmerkung), müssen die Wachstumsraten nicht bloß positiv sein, sondern zumindest den für Kredite geforderten Realzinsen (nomineller Zinssatz abzgl. Inflationsrate) entsprechen. Andernfalls steht den neu geschaffenen Krediten kein reales Vermögen (Zahlungsvermögen, genau genommen; es geht um Cashflows) gegenüber, und die erhoffte Expansion führt postwendend zu einer Wertvernichtung qua Abschreibung uneinbringlicher Forderungen.

Während also schwerwiegende Zweifel angebracht sind, ob sich die nötigen Wachstumsraten in den reichen Ländern noch erzielen lassen werden, habe ich für den Großteil der armen Länder in dieser Hinsicht grundsätzlich keine Sorge: Sie sind zumeist nicht vom Problem des demographischen Übergangs betroffen, und eine Marktsättigung kann ich erst in fernerer Zukunft erkennen.

Kurz gesagt lautet meine These daher, dass der Kapitalismus gerade in den jetzt noch armen Ländern im Grunde eine gesicherte Zukunft vor sich hat und seine weltweite Fortexistenz ungefährdet ist, und dass Krisensymptome unweigerlich zuerst bei “uns” in den reichen Ländern auftreten werden bzw. aus meiner Sicht das bereits tun.

Dass das 21. Jahrhundert das “asiatische” sein dürfte, wird immer offensichtlicher. Siehe dazu u.a. meinen Südwind-Artikel Zeitenwechsel vom November 2006.

Damit nehme ich implizit auch an, dass sich das “Zentrum” des Kapitalismus neuerlich geographisch verschieben wird: Wie es von Europa in die USA wanderte, wird es eben in Zukunft nach Asien, insbesondere Ostasien wandern, und die ehemaligen “Metropolen” werden zu Randzonen.

Die Vorstellung, die Wachstumsprobleme in den reichen Ländern könnten sozusagen auf dem Rücken eines raschen Wirtschaftswachstums in den armen Ländern gelöst werden (etwa durch eine Expansion der Industrieexporte) halte ich für völlig verfehlt, da Wachstum und Entwicklung in den armen Ländern dort, wo die “Masse” ausreichend groß ist, nämlich in China und Indien, mit dem Aufbau eigener Produktionskapazitäten verbunden sind. Der Erfolg eines ähnlichen Prozesses in der Entwicklung Europas, der USA und Japans ist insofern kein Maßstab, als damals die beteiligten Wirtschaften ein höheres Wachstumspotenzial aufwiesen. Zu diesen Hoffnungen ließe sich natürlich noch mehr sagen.

Was nicht sein darf, kann nicht sein?

Trotz deutlicher Krisensymptome kann ich in der allgemeinen Öffentlichkeit keine Anzeichen erkennen, sich mit Alternativen für den Fall auseinanderzusetzen, dass das Wirtschaftswachstum tatsächlich auf Dauer unter das für die weitere Existenz des Systems nötige Mindestmaß fällt.

Das Festhalten am TINA-Prinzip (“There is no Alternative”), das GlobalisierungskritikerInnen neoliberalen Ideologen vorwerfen, ist aus meiner Sicht auch ein Glaubenssatz der meisten VerfechterInnen einer “Light”-Version des Kapitalismus, die dem “Dschungelkapitalismus” á la Thatcher, Reagan, Milton Friedman und anderen Feindfiguren entgegengehalten wird. Es wird offenbar davon ausgegangen, dass nur an den richtigen wirtschaftspolitischen Schrauben gedreht werden müsste, um alles wieder in schöne Ordnung zu bringen: Es muss möglich sein, ausreichende Wachstumsraten zu erzielen, denn wir haben keine Alternative. Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Meine Wahrnehmung der Wachstumsproblematik ähnelt natürlich meiner Sicht auf das eventuell eintretende “Peak oil”-Problem. Je später damit begonnen wird, für den Fall des Falles vorzusorgen, umso schwieriger wird die Umstellung dann in der Praxis.

Ich gehöre auch absolut nicht zu jener Art immer wieder antreffbarer Menschen, die einen “Zusammenbruch des Systems” offenbar regelrecht herbeisehnen, ob aus sozialrevolutionären Gründen (um “Platz” für das Neue zu schaffen) oder aus einem Wunsch heraus, die “Natur” möge so vor ihrer Zerstörung durch den “Menschen” bewahrt werden (von Endzeitgläubigen religiöser Strömungen einmal abgesehen). Selbst mein beschränktes Wissen über die Geschichte reicht aus, um chaotische Zusammenbrüche bisheriger kapitalistischer Aufschwungsperioden weniger als “Chance” denn als Startrampe für neue Albträume wie in den 1930er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wahrzunehmen.

Umso beunruhigender empfinde ich daher den fehlenden Diskurs über zweierlei: Über ein Wirtschaftssystem, dass ohne monetäres Wachstum stabil sein kann, und darüber, wie der Übergang von einem zum anderen in der Praxis bewerkstelligt werden könnte, und zwar ohne einen gedanklich vorgeschalteten sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruch.

Diese Beunruhigung übertrifft unterdessen sogar jene, die aus einer moralisch/ethisch motivierten Kritik etwa an der ungleichen Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen im Kapitalismus herrührt. Ich finde es notwendig und bin ja auch beruflich an Initiativen mit dem Ziel beteiligt, an allen möglichen (vorhin erwähnten) “wirtschaftspolitischen Schrauben” zu drehen, die, ob Verteilungspolitik im Norden oder Nord-Süd-Konflikt, für mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit im Rahmen dieses Systems sorgen können. Meine Sorge ist aber eben auch, dass uns die Maschine, an deren Schrauben wir drehen, unter unseren Händen zusammenbricht.

Natürlich werden zahlreiche Entwürfe alternativer Wirtschaftsweisen in meist beschränkterem Rahmen diskutiert. Oft sind diese Entwürfe aber nur scheinbar alternativ: Selbst wenn Unternehmen zur Gänze den von ihnen Beschäftigten gehören, was es ja bereits gibt (in Form von Genossenschaften etwa; der baskische Konzern Mondragón ist ein interessantes Projekt), das Eigentum an “Produktionsmitteln” also vergemeinschaftet ist, operieren sie oder müssen sie weiter in einem kapitalistischen Rahmen operieren, also Gewinne erzielen.

Kapital und Arbeit sind nur funktionale Gegensätze

Dabei zeigt sich übrigens auch, dass die oft als Kernkritik am Kapitalismus geäußerte Ausbeutung der Arbeitskraft qua Aneignung des am Markt realisierten Mehrwerts durch das Kapital den Kern der Sache gar nicht trifft: “Kapital” und “Arbeit” sind bloß funktionale Gegensätze; die erzielten Einkommen werden diesen Produktionsfaktoren rein rechnerisch zugeteilt, und die Beschäftigten/EigentümerInnen einer Kooperative erhalten die jeweiligen Anteile in “Personalunion”. Dass sich in Händen einiger Superreicher gewaltiges Eigentum an Produktionsmitteln konzentriert, ist ein Ergebnis des “real existierenden Kapitalismus”, aber keine Bedingung, ohne welche das System nicht genauso kapitalistisch wäre.

Jedenfalls kann selbst die Vergemeinschaftung der gesamten produktiven Vermögenswerte (“Kapital” inkl. Grund und Boden) die Wachstumsabhängigkeit des Systems nicht beseitigen.

Klar: Im Unterschied zur aktuellen Lage wäre dann auch auf wirtschaftlicher Ebene so etwas wie “Demokratie”, eine Art “demokratischer Kapitalismus” hergestellt. Allein das wäre zweifellos ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der aktuellen Situation. Die Auseinandersetzung über Alternativen bzw. das weitere Vorgehen wären nicht von Partikularinteressen einzelner mächtiger Kapitalgruppen verzerrt wie derzeit. Überhaupt verlöre der Kampf um die Aufteilung der Einkommen auf Kapital und Arbeit seine Brisanz, und eine Strategie der “Gewinnmaximierung” (u.a. als Gegenwehr gegen sonst drohende feindliche Übernahmen) wäre sinnlos: Es wäre bloß zu entscheiden, was (angesichts des weiter bestehenden Wettbewerbs) unmittelbar investiert werden muss/soll.

In diesem Zusammenhang ist es auch grundsätzlich positiv zu beurteilen, wenn das Eigentum an Unternehmensanteilen (Aktien) breiter gestreut wird. Nur sollte dies nicht als Lösung der durch demographische Entwicklungen verursachten Probleme von Pensionssystemen verkauft werden (siehe dazu auch meine im Anfangsstadium befindlichen Ausführungen zur pensionsreform).

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Anmerkung: Theoretisch wäre bei Deflation/sinkenden Preisen reales Wachstum auch ohne zusätzliche Geldschöpfung möglich. Da die Gesamtverschuldung heute aber bereits ein Vielfaches der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmacht, würden die Schuldner bald unter der Last des wachsenden Schuldendienstes (Zinsen + Rückzahlungen) zusammenbrechen. Daher ist heute Deflation auch ein Albtraum für praktisch alle Zentralbanken.