Wohlbefinden vs. Wirtschaftswachstum

[19.10.2004]

“Der Wirtschaft geht es gut, aber dem Volk geht es schlecht.”

So in etwa beschrieb ein Präsident Boliviens die Lage nach einigen Jahren “struktureller Anpassung” gemäß den Rezepten des Internationalen Währungsfonds in den 1980er und 1990er Jahren. Oder anders gesagt: Dass die Wirtschaft wächst, heißt noch lange nicht, dass es uns besser geht (wer glaubt das eigentlich wirklich?).

Höchste Zeit für eine Umorientierung, sagt die britische New Economics Foundation (NEF): Regierungen sollten sich primär darauf konzentrieren, das Wohlbefinden der Menschen zu erhöhen und nicht Wirtschaftswachstum zu erzielen. Am 28. September 2004, am Tag der Rede von Regierungschef Tony Blair vor der Konferenz der Labour Party in Brighton, veröffentlichte die britische Stiftung eine Studie mit dem Titel “A well-being manifesto for a flourishing society”. Dieses “Manifest” vereint in kompakter Form zahlreiche wesentlichen Argumente und Fakten, die für eine solche Umorientierung sprechen. [Update: Die Version der Studie von 2004 ist nicht mehr zu finden. Es gibt aber eine von 2014: A well-being manifesto for a flourishing society (Pdf).]
(Zur Problematik des Wirtschaftswachstums als Wohlstandsindikator siehe u.a. irreführende ökonomische indikatoren und den Artikel Jenseits des BIP.)

Gut und schön, würden SkeptikerInnen einwenden: Aber wenn die Wirtschaft NICHT wächst, geht’s uns auch nicht besser – ganz im Gegenteil: Dann droht das ganze System von Produktion, Konsum, darauf erhobenen Steuern und Abgaben und der damit finanzierten öffentlichen Ausgaben über kurz oder lang zusammenzubrechen. Ein durchaus stichhaltiger Einwand (siehe dazu u.a. rätsel geldschöpfung).

Es handelt sich m.E. um das zentrale Dilemma, in dem sich “reiche” Gesellschaften mit saturierten Märkten und demzufolge schrumpfenden Wachstumspotenzial befinden: Erstens wird immer offensichtlicher, dass mehr Wachstum nicht unbedingt mehr Lebensqualität bedeutet; zweitens wird es immer schwieriger, jene hohen Wachstumsraten zu erzielen, die das System halbwegs stabilisieren.

Die derzeitigen perversen Trends in der Einkommensverteilung (sinkende Arbeits- und steigende Kapitaleinkommen) und die daraus resultierende Nachfragedämpfung und Vermögenskonzentration sind sowohl Ursache wie Symptom dieses schrumpfenden Wachstumspotenzials.

Es wäre dringendst nötig, diese Trends umzudrehen – und zwar auch um jene Zeit zu gewinnen, die gebraucht wird, um eine Lösung für das erwähnte Dilemma zu finden: Nämlich wie ein Wirtschaftssystem aussehen müsste, dass auch ohne (in Geld gemessenes) Wachstum stabil sein kann und nicht darauf angewiesen ist, immer weitere Bereiche der zwischenmenschlichen Kommunikation und des gegenseitigen Austauschs in geld- und marktvermittelte Transaktionen zu verwandeln.

Meiner Ansicht nach wird man dabei um Reformen des Geldsystems und der Art der Finanzierung öffentlicher Ausgaben nicht umhin kommen; unklar ist auch, in welchem Umfang die Verlockung eines arbeitslosen Einkommens (aus Profiten und Zinsen) als zentraler Motor des “Fortschritts” beibehalten werden müsste.

Initiativen wie das Manifest der New Economics Foundation liefern zwar nicht die Lösung, sie sind aber m.E. immens wichtig, um das grundlegende Dilemma zu einem Gegenstand des politischen Diskurses zu machen. Denn das ist die Voraussetzung, um solche Lösungen zu finden.